Im Rahmen der Unterrichtsreihe der Oberstufe zur Epik gehört die „Marquise von O…“ von Heinrich von Kleist zum verbindlichen Kanon für das Abitur.
Der Schriftsteller Kleist hatte ein nicht allzu langes Leben (er wurde nur 34), hatte Schwierigkeiten damit, seinen Platz in der preußischen Gesellschaft zu finden. Nach der Lektüre von Kants Ausführungen zur Unmöglichkeit der Erkenntnis der Wahrheit verfiel er in eine Lebenskrise an deren Ende er sich das Leben nahm. Er schrieb dazu an seine Verlobte, Wilhelmine von Zenge:
„Wir können nicht entscheiden, ob das was wir Wahrheit nennen, wahrhaftig Wahrheit ist oder ob es uns nur so scheint […]“
Daniela Mendoza Arning, Q2, geht in ihrem Essay auf diese philosophische Problematik ein und überträgt diese auf aktuelle Probleme der modernen Gesellschaft. Sie verfolgt dabei den Stil des kontinentalen Essays in der Tradition Michel de Montaignes, der sich, im Gegensatz zum eher argumentativ-kognitiven Essay der englischen Tradition nach Francis Bacon, durchaus ästhetischer Mittel bedient: Der Essay möchte kurzweilig sein.
(Bartos Lehmann im November 2018, Deutsch-Lehrer Q2)

Ist Wahrheit wahr?

von Daniela Mendoza Arning

Klick. Deutschunterricht. Doppelklick. Unser Lehrer geht an die Tafel und schreibt etwas an. Ein paar Schüler schreiben mit, manche auch nicht. Darüber entscheidet allein ein kleiner dicker Junge aus dem Jahr 2100, der, von seinem Spiel gefesselt, vor einem Quantencomputer sitzt und unsere Welt steuert. Level drei: Der nächste Weltkrieg steht bevor und er muss versuchen, ihn durch kluge Maßnahmen zu verhindern. Zweimal ist es ihm schon misslungen.
Zurecht fragen wir uns jetzt: Warum ist dieses Spiel nicht alters-, oder besser, IQ-begrenzt?
Oder grundlegender: Warum lebe ich eigentlich? Um eine Spielfigur für den Menschen der Zukunft zu sein?
Und: Ist Kleists Weg, diesem sinnfreien Leben zu entkommen, dann nicht die beste Vari­ante?
Wer weiß, wo man dann landet…In einem anderen Spiel, in einem fiktiven Grab, oder viel­leicht im Himmel?
Oder vielleicht…vielleicht gibt es den computerspielenden Jungen der Zukunft gar nicht und auch nicht unseren Deutsch-Grundkurs, sondern nur mein Gehirn, dass bei einem verrückten Professor im Labor liegt, der meine Wahrnehmung durch elektrische Signale steuern kann.
Oder vielleicht ist unsere Galaxie nur ein Staubkorn in einer Welt, die so groß ist, dass man sie sich nicht einmal mit der geballten Vorstellungskraft aller Menschen dieser Welt vorstellen könnte.
Oder vielleicht sind dies Probleme, über die sich nur Menschen den Kopf zerbrechen, die sonst keine Probleme haben?
Wie der Superheld, der sich einen neuen Antagonisten erschafft, weil er sonst keinen Lebenssinn mehr hat, saugen wir uns Problematiken aus den Fingern und versuchen Probleme zu lösen, die keine Probleme lösen.
Während ich diesen Essay schreibe, erstickt eine Meeresschildkröte an der Plastiktüte, in der ich gerade noch Äpfel abgewogen habe, mein Bruder schaltet das Licht an und hat einen 300 Jahre alten Baum auf dem Gewissen, der leider auf einem Braunkohlevorkommen Wurzeln geschlagen hatte und ein brasilianisches Kind hungert, weil in seiner Heimat nur Futter für das ohne Betäubung kastrierte Schwein angebaut wird, das Du gestern auf Deinem Teller hattest.
Also wenn man schon, wie Kleist, in eine Lebenskrise verfällt, dann ja wohl, weil dies die Wahrheit ist und nicht, weil es unter Umständen nicht die Wahrheit ist.
Die Wahrheit ist doch, dass wir uns weder auf die Computerspiel-Fähigkeiten des Jungen der Zukunft, noch auf den Ideenreichtum des verrückten Professors verlassen sollten, sondern unsere Wahrheit lieber selbst zu einer besseren machen sollten.